Wenn von Spanien als ehemaliger Kolonialmacht die Rede ist, dann zumeist in Bezug auf die 400-jährige Geschichte imperialer Herrschaft in Lateinamerika. Das noch ältere Interesse Spaniens an Afrika, das im frühen 19. Jahrhundert Züge eines modernen Kolonialismus annimmt, der bald als „Wettlauf um Afrika“ alle tonangebenden europäischen Nationen erfasst, ist dagegen heute kaum noch im Bewusstsein. Dabei spielt gerade der spanische Neo-Kolonialismus in Nordafrika, der im sogenannten Rif-Krieg (1921-1927) kulminierte, für den Verlauf der politischen Geschichte Spaniens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine kaum zu überschätzende Rolle, bildete er doch das zentrale Bindeglied zwischen der Diskussion um den Verlust der letzten überseeischen Besitzungen im Jahr 1898, einem innenpolitisch so einschneidenden Ereignis wie der Semana trágica in Barcelona (1909) und dem Ausbruch des Bürgerkriegs 1936, der bekanntlich mit einem Putsch der in Marokko stationierten Kolonialtruppen begann. In der spanischen Kultur dieser Zeit ist das ‚marokkanische Abenteuer‘ nicht nur als Hintergrund omnipräsent, es wurde auch zum Gegenstand zahlreicher literarischer Darstellungen, vom anspruchslosen autobiographischen Dokument bis zum elaborierten fiktionalen Kunstwerk. Was die Lektüre dieser Texte so interessant macht, ist der Umstand, dass sich in ihnen in aller Deutlichkeit die vielfältigen ideologischen, ästhetischen und kulturellen Gegensätze der Zeit niederschlagen. Deshalb eignet sich zur Analyse der sie durchziehenden ethnischen, sozialen und geschlechtlichen Diskurse auch kein anderes Verfahren besser als die Anwendung des insbesondere von den Postcolonial Studies privilegierten Race-Class-Gender-Paradigmas. Unser Hauptinteresse wird daher der Frage gelten, in welchem Verhältnis diese drei Kategorien jeweils zueinander stehen. Nach einer historischen und literatur-/kulturtheoretischen Einführung in die Themenbereiche Kolonialismus/Postkolonialismus werden wir uns, vorwiegend in charakteristischen Ausschnitten, mit einer Reihe von Texten sowohl sozialistischer als auch nationalistisch/präfaschistischer Couleur auseinandersetzen, von Francisco Francos Kriegstagebuch Diario de una bandera (1922) bis zu Ramón José Senders avantgardistischem Roman Imán (1930), dem einzigen Text, dessen komplette Lektüre von allen Teilnehmern erwartet wird. Abschließend werden wir uns mit der aktuellen Hinwendung zu dieser historischen Phase in Literatur und Film unter erinnerungskulturellen Vorzeichen beschäftigen. Ein genaues Programm und eine Auswahlbibliographie werden ab Anfang September auf Moodle zu finden sein.