Der sogenannte Orient ist eine Konstruktion der römischen Antike, eine Fremdbezeichnung für „östlich gelegene Länder“, mit der seit ihrer Konstruktion Verheißungen von Exotik und Abenteuer verbunden sind. Antike Rhetorik, transkulturelle Erzählungen und historiographische Reiseberichte finden über viele Jahrhunderte Eingang in die Literatur des Mittelalters, genau wie die Ängste, Wunschvorstellungen und Projektionen ihrer Autor:innen. Dabei begegnet uns das Faszinosum „Orient“ in zahlreichen Texten des Mittelalters und leuchtet immer wieder gerade in seiner Ambivalenz auf: Als gefährlicher Bewährungsraum für reisende Protagonist:innen, als Schwelle zum Wunderbaren, als Ort von „monstra“ und „Heiden“, als irdisches Paradies voller sagenhafter Reichtümer.

Ziel des Seminares ist es, eine kritische kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den literarischen Orientbildern des (deutschen) Mittelalters zu ermöglichen. Wir werden dazu exemplarisch eine Reihe von literarischen Texten kennenlernen, in denen Orientbilder evoziert werden, darunter Alexanderroman, Herzog Ernst, Willehalm u.a. Auf dieser Grundlage werden mithilfe von interdisziplinären Perspektiven der Postcolonial Studies (Edward Saïd, Homi Bhabha) erarbeiten, mithilfe welcher textuellen Strategien der Orient jeweils als fremd oder vertraut inszeniert, idealisiert oder dämonisiert wird. So kann auch danach gefragt werden, auf welche Weise Fantasien vom angeblich so exotischen Osten über das Mittelalter hinaus rezipiert und transformiert werden – und welchen Einfluss sie in der Medienlandschaft der Gegenwart besitzen.