In der aktuellen Corona-Krise beobachten wir, dass unterschiedliche Gruppen, Kulturen und politische Systeme auf die Pandemie ganz unterschiedlich reagieren – trotz des Zugangs weiter Bevölkerungsgruppen zu denselben wissenschaftlichen Daten und Informationen durch das Internet. Selbst in einer globalisierten Welt spielen neben wirtschaftlichen Faktoren kulturelle Praktiken und unterschiedliche Wissenssysteme eine entscheidende Rolle im Umgang mit der Krise. Freiwillige Selbstkontrolle vs. Ausgangssperre, Herdenimmunisierung vs. Isolation, medizinische „Fakten“ vs. „Fake News“, der Blick auf die Krankheit als epidemiologischer Extremfall oder als Strafe Gottes und Rache der geschundenen Natur – all diese scheinbar widersprüchlichen Herangehensweisen an das Virus und seine Folgen zeigen, dass unser Wissen über die Welt divers, fragmentiert und durch eine Vielzahl von Diskursen geprägt ist. Für die Geschichtswissenschaft ist diese Erkenntnis aus den aktuellen Ereignissen von großer Bedeutung. Denn sie bestätigt die These, dass wir auch in unserer Re-Konstruktion der Vergangenheit die Komplexität menschlichen Denkens und Handelns nur dann erfassen können, wenn wir andere Weltsichten und kulturelle Praktiken berücksichtigen, die von unseren eigenen Erfahrungen und Überzeugungen abweichen.
Seit 1945 haben sich VertreterInnen der Geschichtswissenschaft daher mit kulturanthropologischen Ansätzen auseinandergesetzt und diese für ihre historische Arbeit nutzbar gemacht, um „westliche“ Denkweisen über menschliche Kulturen und Gesellschaften zu de-zentrieren und die Multiperspektivität menschlicher Erfahrungen herauszuarbeiten. Die Vorlesung thematisiert diese Auseinandersetzung der Geschichtswissenschaft mit den kulturell „Anderen“ und gibt einen Überblick über die Entwicklungen bis ins 21. Jahrhundert.
Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklungen, Probleme, Aufgaben. Köln u.a. 2001.
Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main 2012.
Christoph Wulf: Anthropologie. Geschichte, Kultur, Philosophie. Reinbek 2004.