Im Rahmen des Seminars sollen primär die historischen Entwicklungslinien konkreter Technologien, die mit aktuellen AR- und VR-Interfaces unmittelbar in Verbindung stehen, nachvollzogen werden. Gleichzeitig ergibt sich (hoffentlich) eine Ideengeschichte der ihnen zugrunde liegenden illusionistischen Prinzipien, wie auch der sie umgebenden Diskurse, die mit Konzepte wie Erwin Panofskys ‚symbolischer Form‘,  Marvin Minskys ‚telepresence‘ und dem heute ubiquitären Immersionsversprechen geführt wurden und werden.

Die teils euphorisch begrüßten, rezenten Entwicklungen im Bereich der Virtual und Augmented Reality Interfaces und Applikationen (man denke nur an den Pokémon Go Hype) sowie die damit verbundenen Marketingstrategien suggerieren, dass es sich um eine völlig neue Technik handelt, die gerade im Begriff ist, ihre Kinderkrankheiten abzulegen.  In der Tat basiert das Konzept der Mixed Reality allerdings auf künstlerischen Techniken, deren Wurzeln bis zur Freskenmalerei der Antike zurückreichen und die mit der Erfindung der Zentralperspektive während der Renaissance zum ersten Mal als spezifisches Darstellungsprinzip mathematisch formalisiert wurden. Bereits der als Erfinder der Perspektive bezeichnete Renaissancemaler Filippo Brunelleschi versuchte, die von ihm angefertigten Abbildungen von Gebäuden über die präzise Positionierung von Beobachter und Zeichnung nahtlos ins Stadtbild von Florenz zu integrieren – ein Anspruch, der sich so auch für die virtuellen Objekte aktueller AR-Interfaces formulieren ließe.

Wie bei allen wissenshistorischen Forschungen lässt sich der Ausgangspunkt unserer Überlegungen beliebig weit nach hinten verschieben – etwa zu den optischen Überlegungen Alhazens oder sogar zu den frühesten Formen der gegenständlichen Malerei. Erst mit der Zentralperspektive beginnt jedoch die Reflektion über das Verhältnis von Wahrnehmung und künstlerischer Darstellung, die als zentrale Triebfeder für die Entwicklung optischer Illusionen – und somit letztlich der AR- und VR-Technik – zu sehen ist. In allen nachfolgenden Medien(technologien), die im Rahmen des Seminars behandelt werden, seien es Stereoskope, die Panoramen der frühen Neuzeit oder die ersten Experimente mit head-mounted Displays, wie sie etwa Ivan Sutherland am MIT durchführte, drückt sich jenes Bewusstsein für ein spezifisches Verhältnis zwischen (visueller) Wahrnehmung und den gewählten darstellerischen Mitteln aus.