Im 18. Jahrhundert und während der Epoche der Aufklärung dominiert die Orientierung an der Vernunft und am Nützlichen. Wo die Frage im Vordergrund steht, was der Einzelne zum Gemeinwohl beitragen kann, wird der „Intimität“ (von lateinisch intimus: ‚wörtlich dem Rand am fernsten, am weitesten innen‘), also dem Bereich des Persönlichen und Privaten, der Nähe zu sich selbst und zu anderen, tendenziell wenig Platz eingeräumt. In Spanien tragen das Kontroll- und Sicherheitsbedürfnis der absolutistischen Monarchie und die religiöse Vormundschaft der katholischen Kirche zusätzlich dazu bei, diesen Raum zu beschränken. Während heute allenthalben von der „Tyrannei der Intimtät“ (so der Soziologe Richard Sennett) die Rede ist, mussten sich im 18. Jahrhundert erst einmal entsprechende Räume der Innerlichkeit und des Privaten herausbilden. Wie sich dieser Prozess im Spanien des 18. Jahrhunderts und unter den spezifischen Bedingungen und Diskursregeln der spanischen Kultur vollzieht, wollen wir im Seminar gemeinsam anhand der Frage erforschen, welche „Sprachen der Intimität“ sich in der Literatur der Zeit manifestieren. Der Begriff ‚Literatur‘ soll dabei in einem weiten Sinn aufgefasst werden, also nicht primär als Synonym für ‚Dichtung‘, sondern auch als Bezeichnung für Formen der schriftlichen Kommunikation, die über dieses enge Verständnis hinausgehen. Dazu gehört neben der Gattung der Autobiographie, wie sie im 18. Jahrhundert unter anderem von Diego de Torres Villarroel (1693-1770), Vida (1753-1758), und José Cadalso (1741-1782), Memoria de los acontecimientos más particulares de mi vida (1773-1780), verfasst wurden, unter anderem die umfangreiche lyrische Produktion der maßgeblichen Dichtergruppen und Freundschaftsnetzwerke wie der Tertulia de la Fonda de San Sebastián und der ersten und zweiten Escuela salmantina. Weitere wichtige Quellen für unsere Fragestellung sind die gesammelten Briefwechsel, die beispielsweise von José Cadalso und Gaspar Melchor de Jovellanos (1744-1811) vorliegen, sowie die Tagebücher etwa von Leandro Fernández de Moratín (1760-1828), Diario (1780-1808), oder ebenfalls von Jovellanos, Diario (1790-1801) und Memorias familiares(1790-1810).

Abgesehen von der Auseinandersetzung mit einer grundlegenden literarhistorischen Problematik und der Behandlung einer Reihe kanonischer Texte und Autoren, die jeder, der sich näher mit der spanischen Literatur beschäftigt, kennen sollte, verspricht das Seminar auch interessante Einblick in bisher weniger bekannte Bereiche der Literatur- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts in Spanien.