Die „novela negra“ ist die spanischsprachige Ausprägung einer Variante des Kriminalromans, die ihre Wurzeln in der amerikanischen hardboiled detective novel und der französischen série noire der 1940er Jahre hat. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass weniger die Person des Ermittlers, als vielmehr die Opfer und Täter im Mittelpunkt stehen. Hinzu kommen eine oft düstere Atmosphäre und die schonungslose Darstellung von Gewalt. Als innerhalb des Gattungssystems marginalisiertes und lange Zeit von der Kritik kaum ernst genommenes Genre eignet sich diese Form des Kriminalromans/Thrillers besonders gut, um einen Blick auf die in der Öffentlichkeit nicht selten tabuisierten Schattenseiten einer Gesellschaft in Gegenwart und Vergangenheit zu werfen. Das hat auch in Lateinamerika und nach dem Ende der dortigen Militärdiktaturen in den 1980er Jahren vor allem in den Ländern des Cono Sur (Argentinien, Chile und Uruguay) zu einem bemerkenswerten Aufschwung der Gattung geführt. Dieser Aufschwung verband sich mit dem doppelten Anspruch, sowohl das spezifische gesellschaftskritische und erinnerungskulturelle Potential der Gattung als auch seine ästhetischen Möglichkeiten in einer Zeit auszuloten, in der die Grenzen zwischen „hoher“ und „niedriger“ Literatur immer durchlässiger wurden und die Konkurrenz durch die audiovisuellem Medien endgültig zur Übermacht gelangte. Mit der systematisch ausgerichteten Frage nach dem ästhetischen Wandel der Gattung und der historischen Frage nach ihrer gesellschaftlichen Funktion, ihrer Teilhabe an den Diskursen der Gegenwart, wenden wir uns vier verschiedenen „schwarzen“ Romanen zu, einem chilenischen und drei argentinischen, die längst als kanonisierte Musterbeispiele ihrer Gattung gelten dürfen: Ángeles y solitarios (1995) von Ramón Díaz Eterovic (geb. 1956), Plata quemada (1997) von Ricardo Piglia (geb. 1941), verfilmt von Marcelo Piñeyro (2000), El décimo infierno (1999) von Mempo Giardinelli (geb. 1947), verfilmt von Juan Pablo Méndez und dem Autor selbst (2012), sowie Penúltimo nombre de guerra (2004) von Raúl Argemí (geb. 1946). Je nach Zusammensetzung und Wunsch der Teilnehmer können zumindest Teile des Seminars in spanischer Sprache stattfinden. Und eine andere Besonderheit soll an dieser Stelle auch schon angekündigt werden. Wenn alles klappt, werden voraussichtlich zwei der von uns behandelten, im Übrigen sehr prominenten Krimiautoren, wahrscheinlich Mempo Giardinelli und Ramón Díaz Eterovic, nach Siegen kommen, um hier eine Lesung abzuhalten und/oder an unserem Seminar teilzunehmen.