Standpunkttheoretische Grundannahmen gehen unter Rückgriff auf die marxistische Theorie und den historischen Materialismus davon aus, dass ein objektiver Erkenntnisgewinn – wenn überhaupt – nur erlangt werden kann, wenn die faktischen Lebensumstände von Menschen ein stärkeres Gewicht in gesellschaftstheoretischen Analysen bekommen. Ausgangspunkt für diese These ist die Grundannahme, dass ein gesellschaftliches Machtungleichgewicht verschiedener Gruppen vorherrscht. Marxist*innen sprechen hier von einem Ungleichgewicht zwischen Arbeiter*innen und Produktionsmittel-besitzer*innen, feministische Theoretiker*innen thematisieren vergeschlechtlichte Unterschiede und intersektionale Ansätze erweitern die Achsen der Macht schließlich um Rassifizierung und Behinderung.

Alle Spielarten eint die zentrale Vorstellung, dass der Standpunkt der Unterprivilegierten die gesellschaftlichen Verhältnisse besser beschreiben und damit letztendlich auch verändern kann. Soziale Verortung ist für die Form, was und wie wir erkennen, von Belang: Es ist also nicht egal, in welchen Körper und in welche Verhältnisse wir als Menschen geboren werden.

Diese Prämissen greifen traditionelle Erkenntnistheorien an und werfen die Frage auf, ob es das eine universelle Wissen überhaupt gibt oder ob – unabhängig vom jeweiligen Standpunkt – zwangsläufig unterschiedliche Vorstellungen darüber entstehen, was Wissen überhaupt ist, welches Wissen anerkannt wird und wer dementsprechend über Wissen verfügt. Ein vermeintlich universeller und objektiver Forschungsstandpunkt wird so als „einfacher und einfältiger Blick von oben“ (Haraway 1995, S. 87) und Herrschaftsinstrument entlarvt.

Doch auch unter den verschiedenen Standpunktheoretiker*innen herrscht keine Einigkeit. Sie widerlegen oder denken sich gegenseitig weiter. Intersektionale Theorien wie der Schwarze Feminismus und postkoloniale Ansätze kritisieren etwa feministische Standpunkttheorien: Der Anspruch, Erkenntnissuche bei den ganz konkreten Lebensbedingungen von Frauen anzusetzen, die den Großteil notwendiger Care-Arbeit verrichten (Harding 1991, S. 48), ignoriere die Erfahrungswelt rassifizierter, armer und nicht-westlicher Frauen, die immer schon Care- und Lohnarbeit verrichten mussten (hooks 1984; Hull et al. 1993; Hill Collins 2000).

Im Seminar werden wir nach einer Grundlegung über Texte von Georg Lukács und seiner Idee des Klassenbewusstseins verschiedene Standpunktheoretiker*innen und ihre Konzepte kennenlernen: Als Diskussionsgrundlage dienen uns Nancy Hartsock und ihr feministischer historischer Materialismus, das epistemische Privileg von Sandra Harding, situiertes Wissen nach Donna Haraway, die Idee der durchlebten Erfahrung als kollektive Weisheit von Patricia Hill Collins und die Beziehung von erzählten Geschichten und Widerstand nach bell hooks.