Wir können sagen, dass allein die Tatsache, in der Welt zu leben, die nahezu unvermeidliche Notwendigkeit mit sich bringt, aus ihr zu entkommen oder den Drang, sich andere mögliche Welten vorzustellen, in denen wir nicht den gleichen physischen, sozioökonomischen oder geopolitischen Regeln unterliegen. Diese Merkmale definieren und ermöglichen unsere ortsgebundene Existenz, beschränken uns jedoch gleichzeitig so sehr, dass wir aus rebellischem Handeln angetrieben sind, sie zu brechen. Schon seit den Zeiten von Christine de Pizan oder Thomas Morus (14.-15. Jhd.) werden uns utopische Gesellschaften vorgestellt, die zumindest als Gedankenkonstrukt funktionieren: Die Utopie reißt uns aus unserem gegenwärtigen Zusammenhängen heraus und versetzt uns in fiktive Umgebungen, die der anderen Regeln unterliegen und uns, die die Dysfunktionalität (oder den Pragmatismus) unserer aktuellen Welt anzeigen. Utopien sind aber - per Definition - unerreichbar, es ist genauso unmöglich, in der „Stadt der Damen“ zu leben (Le Livre de la Cité des dames, Christine de Pizan, 1405) , im Zentrum der Erde zu leben oder, wie es für das Ende des Jahrzehnts geplant ist, BesucherInnen von Hotels in der Umlaufbahn wie der Voyager oder Pioneer Station zu werden (Above Space).
Wir beschäftigen uns im literarischen Kontext permanent damit, neue Welten zu erschaffen und sie durch ihre Lektürezu bewohnen. Aber was passiert, wenn technologische Entwicklungen und die Entstehung von Game-Engines es uns zum Beispiel ermöglichen, AkteurInnen in diesen erdachten Orten zu sein? Kann Worldbuilding eine Widerstandsstrategie sein? Eine Form der Flucht? Eine Möglichkeit, die Realitäten, die uns beschäftigen, auszusetzen und uns von ihnen zu lösen? Wenn wir neue Welten erschaffen, schaffen wir auch die Grenzen, die sie begrenzen? Sind Worldbuilding und das limitierende Gatekeeping miteinander verwandte Konzepte? Impliziert Worldbuilding unausweichlich eine Kontrollstrategie? Und wenn wir aufwachen würden, um festzustellen, dass wir in einer Simulation leben? Diese Möglichkeit wurde lange von Philosophen wie Nick Bostrom diskutiert. Andere Denker wie Stephen Hawking behaupteten, dass die Wahrscheinlichkeit, in einer Simulation zu leben, bei über 50 % liegt, während Persönlichkeiten wie Elon Musk die Unmöglichkeit, in einer simulierten Welt zu leben, in einem Verhältnis von eins zu einer Billion einschätzen.
Die Simulationsthese ist eine der größten Obsessionen unter den Milliardären der Tech-Industrie im Silicon Valley, einem abgelegenen Ort in Kalifornien, der sich gleichzeitig mit der Entwicklung der Technologien befasst, die es uns heute ermöglichen, Welten zu erschaffen und in ihnen zu leben - innerhalb der möglichen Simulation, in der wir existieren.
In diesem Seminar möchten wir Strategien des Worldbuilding betrachten und diese durch den Einsatz von Technologien ähnlich derer zur Erstellung von "Walking Simulatoren" (Unity, Spatial) in die Praxis umsetzen. Unser Ziel ist es nicht, SchöpferInnen eines neuen Mehrspieler-Videospiels zu werden oder das Programm Ubisoft zu übertrumpfen, sondern vielmehr über die Inspirationen und Motive nachzudenken, die uns dazu bringen, Utopien zu erschaffen. Letztendlich geht es darum, ein Fragment einer erdachten Welt zu erschaffen, über die Gesetze nachzudenken, denen dieser Ort folgt, warum und wie er existiert. Wenn es tatsächlich wahr ist, dass wir in einer Simulation leben, warum nicht darüber nachdenken, wie wir sie erschaffen hätten, wenn wir dafür verantwortlich gewesen wären? Und überhaupt: was hat das alles mit Architektur zu tun?
Unter den geplanten Aktivitäten des Seminars steht der Besuch der Ausstellung "Worldbuilding" in der Julia Stoschek Collection in Düsseldorf, geführte Meditationen zu den Utopien unseres Unterbewusstseins, Virtual Reality Worldtravelling und Online-Treffen in von euch selbst erschaffenen Welten. Für die Teilnahme am Seminar ist die Verwendung eines Laptops erforderlich, den ihr im Unterricht verwenden könnt. Vorkenntnisse im Umgang mit Game Engines sind nicht erforderlich, aber grundlegende 3D-Kenntnisse sind empfehlenswert.
Wahlfach Master
mittwochs 10 - 12 Uhr, PB-K 001 (Simone), erster Termin 11.10.22
Seminarleiterin: Nieves de la Fuente
Material: Laptop.
- Dozent/in: Nieves De la Fuente Gutierrez
- Dozent/in: Andreas Wöbking