Der Terminus „Mystik“ kommt etymologisch vom griechischen Verb „muein“, das wörtlich „verschließen“ bedeutet (u.a. die Augen oder den Mund verschließen, verschweigen). Er wird in der Ideengeschichte bekanntlich verwendet, um eine Betrachtungs- und Erkenntnisform des Göttlichen zu bezeichnen, welche sich der Sprache entzieht und als eine überrationale, private Erfahrung mit den Mitmenschen nicht teilen lässt. Wie verhält sich aber die Mystik zum Philosophieren, welches auf der Diskursfähigkeit der Vernunft beruht und auf das Definieren und Erläutern von Begriffen angewiesen ist? Und was hat darüber hinaus die Mystik mit der Politik zu tun, insofern Letztere einen öffentlichen Sprach- und Handlungsraum voraussetzt? Es ist kein Zufall, dass Denker, die im heutigen wissenschaftlichen Diskurs als „Mystiker“ gelten, häufig als intellektuell isolierte Figuren porträtiert werden, als ob radikale Ideen wie beispielsweise die Vereinigung mit dem Göttlichen im Widerspruch zu einem konkreten politischen und sozialen Engagement stünden. Die Arbeitsperspektive des Seminars nimmt diesen kulturgeschichtlichen Gemeinplatz ins Visier. Neuere Forschungen zeigen nämlich, dass mystisches Denken im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit eine philosophische und sogar eine politische Agenda implizierte. Die so genannten „Mystiker“ wirkten in der Tat als zentrale Akteure komplexer sozialer und intellektueller Netzwerke. Das Seminar behandelt eine Zeitspanne der Denkgeschichte, die sich vom 14. bis zum 17. Jahrhundert erstreckt, und beabsichtigt auf der Grundlage eingehender Textlektüren die Hypothese zu überprüfen, dass die philosophische Mystik im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa eine Form des intellektuellen, religiösen und politischen Dissenses darstellte. Im Dialog mit sechs verschiedenen Autoren von Meister Eckhart bis Jacob Böhme werden wir aus einer originellen Sicht die philosophischen Fragen nach der Macht, nach der religiösen und politischen Toleranz, nach dem Frieden und dem gerechten Krieg, nach dem Ursprung des Bösen in der menschlichen Gesellschaft oder nach der Rolle des Volkes in der Geschichte stellen und herausarbeiten.


Das Blockseminar hat eine workshopartige Gestaltung und basiert auf einer intensiven gemeinsamen Analyse und Diskussion der Texte, deren selbständige Lektüre vor den Sitzungen vorausgesetzt wird. Bei der Vorbereitung auf das Seminar legen die Studierenden ein kleines Dossier an, das die Ergebnisse der selbständigen Lektüre der Texte sichert und dessen Aufbau in der Vorbesprechung am 08. November 2019 präsentiert wird. Das Dossier ist dann vor Beginn des Kurses (24. Februar) bei den zwei Dozierenden per E-Mail einzureichen. Die Veranstaltung wird im Rahmen einer wissenschaftlichen Kooperation zwischen der Philosophischen Fakultät in Siegen bzw. der Juniorprofessur für Geschichte der Philosophie und dem Cambridge Centre for the Study of Platonism (Dr. Cecilia Muratori, University of Cambridge, Faculty of Divinity) angeboten.