Im Gefängnis und kurz vor seiner schuldlosen Hinrichtung sucht Boethius in der Philosophie Trost und eine Versöhnung mit seinem persönlichen Schicksal. Er stellt dabei die Frage nach dem menschlichen Glück und nach dem Ursprung des Bösen. Was ist das Glück, fragt sich Boethius, wenn die menschlichen Angelegenheiten keiner rationalen und gerechten Ordnung unterstehen und dem plötzlichen Wandel der Fortuna ausgesetzt sind? Wie lassen sich die Ungerechtigkeiten der menschlichen Geschichte und Politik mit der Idee eines göttlichen Prinzips vereinbaren, welches den Kosmos zum Guten leitet und lenkt? In der Schrift des Boethius, die aus dieser existentiellen und gedanklichen Konstellation hervorgeht, tritt die Philosophie als eine Seelenärztin auf und führt den Autor durch ein philosophisches Heilungsverfahren, das auf den Quellen der antiken Weisheit beruht und eine den Geist umformende Selbst- und Welterkenntnis anvisiert.
Der Denker und Politiker Severinus Boethius (†524) gilt als eine der wichtigsten und einflussreichsten Figuren der Philosophiegeschichte in der Vormoderne. Am Ende des römischen Reiches lebend besaß er noch eine vollumfängliche antike wissenschaftliche Bildung und war darum bemüht, durch originelle Abhandlungen sowie Übersetzungen und Kommentare das Erbe des griechischen Wissens an die lateinische christliche Kultur zu vermitteln. Im Seminar wird das Hauptwerk des Boethius, der „Trost der Philosophie“, eingehend analysiert, wobei wir die Lehre des Boethius vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit der antiken Ethik und Metaphysik rekonstruieren. Ausgehend von Boethius’ Rezeption und Aneignung des Denkens Platons, Aristoteles’, Plotins und Ciceros, deren Texte wir auszugsweise berücksichtigen werden, bietet das Seminar zudem eine kleine Einführung in die Philosophie der Antike und der Spätantike.