Obwohl er in dem (heute burgenländischen) Eisenstadt lebte und arbeitete, also abseits der großen musikalischen Zentren, zählte Joseph Haydn (1732–1809) zu den international erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit. Dass ihn 1785 ein Kompositionsauftrag aus dem andalusischen Cadíz erreichte, ist dennoch erstaunlich. Denkwürdig war aber nicht nur die Provenienz des Auftrags, sondern auch dessen Zielsetzung: Denn der Bischof von Cadíz bat Haydn seinerzeit um Orchesterstücke, die eine Meditation über die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze ermöglichen sollten. Haydn tat sich zunächst schwer, sieben (selbstverständlich) langsame Sätze zu komponieren, „die den Zuhörer nicht ermüden“ sollten. Doch betrachtete er seine Vertonung in der Rückschau als eine seiner besten Arbeiten – eine Wertschätzung, die sich auch an der Tatsache ablesen lässt, dass er die Orchestersätze mehrfach bearbeitete (für Streichquartett, für Klavier und später als Oratorium).

Aus musikwissenschaftlicher Sicht, gilt es zunächst, die Textur der Vertonung analytisch zu erkunden, das Wort-Ton-Verhältnis zu untersuchen sowie die Dramaturgie des Gesamtaufbaus zu erfassen. Hand in Hand mit solchen Aspekten geht die Frage, wie Haydns Sieben letzte Worte im Sinn einer gottesdienstlichen Gebrauchsmusik funktionierten. Gattungsgeschichtliche Betrachtungen (etwa mit Blick auf die Parallelvertonungen von Heinrich Schütz oder Sofia Gubaidulina) sollen zu einem tieferen Verständnis beitragen.

Auf theologischer Seite geht darum, den biblischen, frömmigkeitsgeschichtlichen, aber auch den gottesdienstlichen Hintergrund des Stücks aufzuhellen. Dafür werden die letzten Worte Jesu in ihrem ursprünglichen Kontext, den vier Passionserzählungen des Neuen Testaments, literarisch wie historisch analysiert und auf die jeweilige theologische Absicht der vier Evangelisten hin befragt. Hinzu kommt ihre Verortung im Kontext der Gattung „ultima verba“ der antiken jüdischen wie paganen Literatur. Im Anschluss daran sind sowohl die Loslösung aus ihrem ursprünglichen Kontext als auch ihre sekundäre Zusammenstellung zu „Sieben letzten Worten Jesu“ in frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht nachzuzeichnen. Mit dieser Zusammenstellung ist wiederum eine neue „Geschichte“ entstanden, die ihre eigene Wirkungsgeschichte ausgelöst hat. Diese lässt sich nicht nur in privaten Frömmigkeits- und Andachtsformen greifen, sondern auch in Literatur, bildender Kunst und Musik, in manchen Kirchengebieten ab dem 17. Jh. aber sogar im Bereich des offiziellen Gottesdienstes. Deswegen soll auch der spezifische Karfreitagsgottesdienst der „Tres Horas“ rekonstruiert werden, für den Haydn das Stück ursprünglich verfasst hat.

Laut dem Liturgiewissenschaftler Benjamin Leven entstehen die Liturgie und die Frömmigkeitspraxis des 18. Jahrhunderts aus einem Zusammenspiel von Gesten und Bewegungen im Raum, von unterschiedlichen Sprechakten, Gesang und Instrumentalmusik, sakralen Objekten und Textilien, temporären szenischen Installationen und figürlichen Darstellungen. Dabei verbinden sich die traditionellen katholischen Riten mit Elementen theatraler Inszenierungen, der Kirchenraum wird zum ‚Theatrum sacrum‘. Im Seminar soll Joseph Haydns Werk sozusagen rekontextualisiert und wieder in seinem liturgisch-theatralischen Kontext verstanden werden.

Literatur:

Auf der Maur, Hansjörg, Feiern im Rhythmus der Zeit I. Herrenfeste in Woche und Jahr (Gottesdienst der Kirche 5), Regensburg 1983.

Buchinger, Harald, Heilige Zeiten? Christliche Feste zwischen Mimesis und Anamnesis am Beispiel der Jerusalemer Liturgie der Spätantike, in: P. Gemeinhardt et al. (Hg.), Communio Sanctorum. Heilige, Heiliges und Heiligkeit in spätantiken Religionskulturen (RVV 61), Berlin etc. 2012, 283–323.

Drury, Jonathan Daniels, Haydn’s Seven Last Words: An Historical and Critical Study, University of Illinois at Urbana-Champaign, Ph.D., 1976.

Gnilka, Christian, Ultima verba, in: Jahrbuch für Antike und Christentum JAC 22 (1979) 5–21.

Göllner, Theodor, „Die sieben Worte am Kreuz“ bei Schütz und Haydn, München 1986.

Griesinger, Georg August, Biographische Notizen über Joseph Haydn, Leipzig 1975.

Henke, Matthias, Joseph Haydn, München 2009.

Koch, Jakob Johannes, Heiliger Haydn? Der Begründer der Wiener Klassik und seine Religiosität, Kevelaer 2009.

Köpf, Ulrich, Art. Passionsfrömmigkeit, in: Theologische Realenzyklopädie TRE 27 (1997) 727–764.

Langrock, Klaus, Die Sieben Worte Jesu am Kreuz. Ein Beitrag zur Geschichte der Passionskomposition (= Musikwissenschaft / Musikpädagogik in der Blauen Eule, Bd. 2), Essen 1987.

Leven, Benjamin, Theatrum sacrum und Gesamtkunstwerk. Kunst und Religion bei Christoph Schlingensief, in: Herder-Korrespondenz 70/2 (2016) 39–42.

Messia Bedoya SJ, Alonso (1665–1732), Devocion A Las Tres Horas De La Agonia De Nuerstro Redemptor Jesuchristo, Murcia 1763.

Messia Bedoya SJ, Alonso, The Devotion of the Three Hours on Good Friday (translated from the Spanisch Original), London 1899. (PDF online: https://archive.org/download/thedevotionofthe00mesiuoft/thedevotionofthe00mesiuoft.pdf).

Raab, Armin, u.a. (Hg.), Das Haydn-Lexikon, Laaber 2010.

Theobald, Michael, Der Tod Jesu im Spiegel seiner „letzten Worte“ vom Kreuz, in: Theologische Quartalschrift ThQ 190 (2010) 1–30.